C. Wolf Gesellschaft/C.G. Junggesellschaft
„Reise auf die andere Seite der Wirklichkeit“ – Trauerarbeit und Transformation gestaltet in einer Traumserie (Christa Wolf , „Stadt der Engel“)
( B. Kortendieck-Rasche, Berlin)
In Christa Wolfs Erzählung „Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud“ begleitet eine Serie von Träumen den fortlaufenden Text und gibt Kommentare und Traumbilder als Ergänzungen aus dem Unbewussten zu den bewussten Erinnerungen und Erfahrungen. Es ist ein Trauerprozess in den Träumen gestaltet, der letztendlich auf einer neuen unerwarteten Ebene zur Versöhnung und Akzeptanz des gelebten Lebens der Protagonistin führt.
Ich würde in meinem Beitrag versuchen die Traumbilder und den in ihnen dargestellten Prozess mit Hilfe der Deutungsmöglichkeiten, die die Analytische Psychologie C. G. Jungs bietet, zu beleuchten und im Geschehen des Textes verständlicher zu machen.
„Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht.“ (2010)
Zu Christa Wolfs Nachdenken über das 21. Jahrhundert
(Dr. Renate Ullrich, Berlin)
Drei Monate vor ihrem Tod, im Jahr 2011, schrieb Christa Wolf, zwei ihrer Bücher erschienen ihr „noch heute … brauchbar“: Kindheitsmuster und Leibhaftig. Beide handeln von welthistorischen Umbrüchen, den Grunderfahrungen ihrer Generation: Kindheitsmuster (1976) vom Ende von Faschismus und Zweitem Weltkrieg, Leibhaftig (2002) vom Untergang der DDR. Beide sind Reflektionen darüber, wie sie diese Ereignisse zu bewältigen versuchte und welche Chancen sie der Zukunft einräumte. Gegenwärtig scheinen mir drei ihrer Werke von besonderem Interesse, die sie ausgehend von ihren Nach-Wende-Erfahrungen schrieb: Leibhaftig und Medea (1995) und Stadt der Engel (2010). Die letzten Sätze in diesem ihrem letzten großen Roman, einer Art Bilanz, lauten: „Wohin sind wir unterwegs? Das weiß ich nicht.“ (S. 415)
„Nicht nur die Fundamente suchen und nachweinen“
Tendenzen aktuellen Erinnerns an die DDR einer jungen AutorInnen-Generation, exemplarisch gezeigt am Roman Raumfahrer von Lukas Rietzschel
(Marielusie Labry, Doktorandin Universität Leipzig)
Die offiziellen Erinnerungsdiskurse um die DDR bekommen mit einer jungen AutorInnen-Generation, die nach der Wiedervereinigung geboren und aufgewachsen ist, eine neue Perspektive, die sich vermehrt die Frage nach der eigenen Herkunft und Identität stellt. Sie spüren dabei den Erinnerungslandschaften nach, die sie von ihren in der DDR sozialisierten Eltern und Großeltern mitbekommen und versuchen, ein Erinnern zwischen Diktatur- und Arrangementgedächtnis zu etablieren. Dabei treffen sie nicht selten auf das Schweigen ihrer Eltern, jenseits der Erinnerungen zwischen einem ganz normalen Leben und Repressionen und Unfreiheit in einer Diktatur. So thematisiert auch der 2021 erschienene Roman Raumfahrer von Lukas Rietzschel diese Konfliktfelder. Der Roman erzählt die Geschichte von Jan, der in der sächsischen Provinz aufwächst und seiner Suche nach den Ursachen für die Verflechtungen seiner Familie mit der des Malers Georg Baselitz. Der Protagonist findet dabei heraus, welche einschneidenden Veränderungen die Systemwechsel nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Ende der DDR für beide Familien mit sich bringen. Verdrängte Schuld und die Last von Familiengeheimnissen sind dabei bis in Jans Generation zu spüren. Junge AutorInnen wie Lukas Rietzschel stellen mit Hilfe fiktionaler Texte alte Narrative in Frage und setzen Leerstellen der Erinnerungen und damit einhergehende Konflikte in den Fokus.
Visionen in den Nischen.
Christa Wolfs Utopie – jenseits gesellschaftstheoretischer Konzepte
(Dr. Birgit Bockschweiger, Universität Regensburg)
Ab Mitte der 1970er-Jahre lässt sich bei Christa Wolf aufgrund der politischen Enttäuschungen ein Rückzug aus der Öffentlichkeit in den Schutz privater Kreise erkennen. Für Christa Wolf geht es zunehmend um die Möglichkeit sich in künstlerischem Schaffen herauszufordern und das ohne Vorgaben und politische Erwartungen als alltägliche Qualität ausleben zu können. In diesem Zusammenhang steht eine Aufzeichnung zu Kein Ort. Nirgends: Utopie sei die „Synthese von Kunst und Leben“. Der Fokus liegt dabei kaum auf der gesellschaftspolitischen Ordnung oder einer Wirkung nach außen, sondern vielmehr auf der Auseinandersetzung mit sich selbst und nahen Menschen.
Unter Einbezug von Archivmaterial lassen sich Christa Wolfs Reflexionen über und ihre Haltung zu aktuellen, von ihr rezipierten Theorien sowie ihr eigenes Verständnis von Utopie aufzeigen.
Fragment und Ganzheit. Spuren der Romantik bei C. Wolf und C. G. Jung
Vortrag und Musik
(Dr. J. Rasche, Berlin)
Das Scheitern von Hoffnung scheint ein Thema unserer Zeit zu sein. Wenn Christa Wolf in „Kein Ort. Nirgends“ Kleist und Günderode ins Gespräch bringt über die Unmöglichkeit, Ideale der Revolution zu leben, und wenn C. G. Jung seine Psychologie des Unbewussten schon bei C. G. Carus (1789 – 1869) vorgeformt findet („mehr als bei Freud“), dann sprechen beide aus der Erfahrung der Romantik. Für Christa Wolf im Aufbruch der DDR: „ins Ungebundene gehet eine Sehnsucht“; für C. G. Jung die Suche nach etwas, das bleibt angesichts der Katastrophen des ersten und des zweiten Weltkriegs und der deutschen Psychose. Mythologie, Märchen, Träume und Tagträume sind für beide wie Spiegel, um die Situation des modernen Menschen ins Bild zu bringen und, wenn möglich, archetypische, allgemein menschliche Muster zu finden. Wesentlich dabei das Gespräch für die „allmähliche Verfertigung der Gedanken“ (Kleist), bei Jung: „Im Wesentlichen träumen wir immer aus dem, was zwischen uns liegt“. Das Grundtrauma ist das Scheitern der Hoffnungen aus Aufklärung und Auflehnung nach 1789, das zu einer Bewegung der Verinnerlichung geführt hatte, zur Nachtwelt der Psyche, zur Fraktionierung der Persönlichkeit und einer unstillbaren Sehnsucht – Hölderlin, Kleist, die Günderode, auch Robert Schumann waren Zeugen des Scheiterns und der Entstehung des modernen Individuums. C. G. Jung fand als Perspektive für das gescheiterte Subjekt die „Individuation“, den verschlungenen und oft gebrochenen Weg zum „Selbst“, zur Ganzheit der Existenz. Darum soll es gehen.
Musik der Romantik:
Ergänzt wird der Vortrag durch Klavierkompositionen von Schumann (aus den „Kinderszenen“), von Chopin (Largo aus der Sonate h-moll op.58) und von Franz Liszt (Le mal du pays – Heimweh; Consolation III). Die Musikstücke zeigen etwas von der Innenwelt der Romantik, das Suchen nach Wegen aus der Gebrochenheit, und das große Glück gefundener Lösungen – jenseits oder vor der Sprache.
C. Wolfs „Blickwinkel“ und ihre Suche nach utopischen Ansätzen.
Zum Geheimnis der inneren „Sehraster“ als Wahrnehmungsmuster in ihrem Werk.
(Dr. A. Messmann. Berlin)
C. Wolfs Kunst ist nicht nur Dichtung; sie ist zugleich die Arbeit an der menschlichen Wahrnehmungs- und Bewusstseinsbildung, um dem Rätsel des Lebens auch über den Weg der Erkenntnis näher zu kommen. Dreimal hat C. Wolf in ihrem schriftstellerischen Leben eine Wahrnehmungs- und
Bewusstseinsveränderung vollzogen, neue „Seh-Raster“ entwickelt, um mittels einer „Neueinstellung der Tiefenschärfe“ ihr Bild von der Welt und von sich selbst in dieser Welt neu ausloten zu können. Mit jeder Neueinstellung haben sich ihr neue Bewusstseinsräume eröffnet mit dem Effekt, dass sie tiefer in die
Strukturen der Macht- und Herrschaftsverhältnisse vorgedrungen ist.
Vor allem in ihrem Alterswerk ist es C. Wolf mit ihrer Tiefenarbeit gelungen, neue „Blick-Winkel“ zu kreieren, die es gestatten, die Dramatik unserer Zeit im Kampf um das Überleben der Gattung klarer zu sehen und mit Bezug auf die Bildung eines zukunftssichernden Narratives neue weichenstellende Impulse schöpfen zu können.