Der Dialog zwischen C.G Jung und Wolfgang Pauli
Kern dieses Wandels war, wie man heute zu sehen vermag, ein kategorialer Wandel der Vorstellung des Geistigen. Im Rahmen des Ringens um eine neue – mit dem heutigen Wissen über die Natur kompatible – Auffassung des Geistigen sind nun die Gespräche C.G. Jungs mit Wolfgang Pauli zu verstehen. Um aber deren Stellenwert innerhalb dieses mehrere Jahrzehnte dauernden Prozesses zu verorten, muss ich etwas weiter ausholen.
Gewonnen wurde die Unterscheidung zwischen Materie und Geist schon während der Evolution des Bewusstseins bei archaischer Weltsicht, und zwar vor allem durch Auseinandersetzung mit der ‚jenseitigen’ Welt. Dabei wurde der Begriff des Geistigen in der Weise erarbeitet, dass man sich die jenseitigen Wesen, die man in frühen Kulturen noch ungefähr von gleicher Konsistenz wie die ‚diesseitigen’ aufgefasst hatte, immer weniger materiell – aus einem immer feineren Stoff bestehend – vorstellte. Dieser Prozess hatte jedoch eine strukturelle Beschränkung. Sie war gegeben durch die damals noch konkretistische Auffassung der Gestaltungen des Unbewussten. Den nie erreichbaren Grenzwert der Entmaterialisierung bildete der Begriff des rein geistigen Wesens. Man kann zwar sagen, ein Wesen sei rein geistig. Indessen ist es uns unmöglich, sich ein Wesen, das tatkräftig ins ‚Diesseits’ eingreift und dem Menschen seinen Willen offenbart, aus reinem Geist bestehend vorzustellen. Ganz ohne Stoff geht es einfach nicht.
So drohte denn die Evolution des Bewusstseins während des europäischen Mittelalters an einem Plafond anzustossen. Sie konnte nur weitergehen, wenn eine grundlegend neue, nicht mehr konkretistische Auffassung des Geistigen gefunden wurde. Dabei ging es um das objektiv Geistige: um jenes Geistige, das schon da war, bevor Bewusstsein – das subjektiv Geistige – in die Existenz trat. Die Götter, an denen während der archaischen Phase der Begriff des Geistigen erarbeitet worden ist, waren ja – gemäss Mythos – schon da, bevor der Mensch ‚geschaffen’ wurde.
Der Wandel der Auffassung des objektiv Geistigen dauerte an die fünfhundert Jahre. Er wurde nicht bewusst angestrebt, war er doch ein Naturprozess. Er erfolgte durch Wechselwirkung zwischen Selbst und Ich, wobei die Führung beim Selbst lag. Begonnen hatte der Wandel damit, dass das Interesse, das bis dahin vor allem auf die ‚übernatürliche Welt’ gerichtet war, sich auf die ‚natürliche’ verlagerte. Dabei kamen – als völliges Novum – die empirischen Wissenschaften zustande: ein Typus von Wissenschaft, der sich vom hermeneutischen theologischen, der das ‚Wort Gottes’ deutet, kategorial unterscheidet.
Empirische Forscher hatten indessen nur ein Ziel: Natur und Kultur zu ergründen. Dass sie dabei – ohne es zu ahnen – die Grundlage für einen neuen, nicht mehr konkretistischen Begriff des objektiv Geistigen geschaffen haben, konnte erst erkannt werden, als die Zeit zur Erarbeitung der neuen Auffassung des Begriffspaares von Materie und Geist reif war.
Dass der Wandel dieser Auffassung ein Naturprozess – eine Mega-Mutation im Rahmen der Evolution des Bewusstseins – war, zeigte sich unter anderem darin, dass er nach jener Gesetzmässigkeit psychischen Wandels verlief, die seit eh und je in den Gestaltungen des Unbewussten durch die Sprachfigur vom Tod und der Auferstehung eines Gottes veranschaulicht wurde.
So hatte denn – unter dem Blickwinkel der Bewusstseins-Evolution betrachtet – der ideologische Positivismus der ersten Aufklärung die Funktion, den ‚Tod’ der archaischen Vorstellung des Geistigen herbeizuführen. Der Materialismus, der daraus resultierte, ist deshalb als eliminatorischer Materialismus zu bezeichnen. Er ergab sich aus der Elimination der archaischen Vorstellung des Geistigen. Indessen trug er schon den Keim für die ‚Auferstehung des Geistigen in neuer Gestalt’ in sich. Der musste nur noch herausgearbeitet werden, was allerdings erst gegen Ende des 20. Jh. möglich war.
In der Naturwissenschaft fand der Materialismus seine Ausprägung im Energieparadigma: in der am Ende des 19. Jh. zustande gekommenen Überzeugung, die gesamte Wirklichkeit – einschliesslich des als Ausfluss der Materie betrachteten Menschengeistes – könne mit der Zeit auf den Begriff ‚Energie’ zurückgeführt werden. Dieser sogenannte ontologische Reduktionismus ist dann im Verlauf des 20. Jh. – bei der zweiten Aufklärung – überwunden worden.
Untergründig waren schon im 19. Jh. Gegenbewegungen aufgekommen, z. B. die Romantik, die neognostisch-theosophische Strömung, die idealistischen Philosophien von Hegel, Fichte und Schelling. In der Naturwissenschaft äusserten als erste gewisse Physiker ein Unbehagen in der materialistischen Weltsicht. Die einen erachteten diese als ungenügend zur Erklärung der Natur, die andern beklagten, sie schliesse etwas aus, das in früheren Zeiten den Menschen Lebenssinn und Richtlinien für das Handeln gegeben habe.
In diesem Rahmen ist der Pauli-Jung-Dialog zu verorten. Zusammengekommen sind die beiden Forscher dadurch, dass Pauli sich einer Analyse unterzog und dies bei ihm einen gewaltigen Strom archetypischen Materials auslöste, was wiederum Jungs besonderes Interesse auf sich zog. Als die beiden Forscher sich trafen, hatte schon jeder auf seinem Fachgebiet entscheidende Entdeckungen gemacht. Beide hatten jedoch den Drang, darüber hinaus sich Gedanken über eine erweiterte Sicht der Wirklichkeit zu machen.
Drei Jahrzehnte lang standen sie miteinander in brieflichem Kontakt. Pauli schilderte dabei seine Träume und Imaginationen, entwickelte aber auch seine Gedanken über eine neue Physik. Jung kommentierte Paulis innere Bilder, vor allem soweit diese Material für eine neue Sicht der Welt enthielten. Beide tasteten sich – von entgegengesetzten Seiten her kommend – gleichsam ins noch Unbekannte vor.
Pauli ging – als Physiker – von der Materie aus. Er hatte festgestellt, dass das Atom nur dann voll verstanden werden kann, wenn man es als Ganzheit betrachtet, dass jedoch Ganzheit – das Mehr-Sein als die Summe der Teile – mit dem Energiebegriff nicht erfasst werden kann. Er sah somit die Voraussetzungen, von denen die Physik bis dahin ausgegangen war, als zu eng an und suchte nach einer breiteren Grundlage. Dabei schwebte ihm – auf Grund seiner inneren Erfahrungen – eine Physik vor, welche eine seelische Verbindung mit der Natur schafft. Schliesslich erahnte er eine Lösung, bei der Geist und Materie als komplementäre Aspekte einer umfassenderen – bisher nicht erkennbaren – Wirklichkeit verstanden werden.
Jung ging von der Psyche – und damit vom Immateriellen – aus, wobei er ja schon den damals neuen Begriff des autonomen objektiv Psychischen erarbeitet hatte. Aufgrund jener von ihm beobachteten Phänomene, die er als Synchronizitätsphänomene bezeichnete, interessierte er sich vor allem um die Wechselwirkung zwischen Psyche und Materie. Als Leitfaden diente ihm dabei der Archetypbegriff. Diesen hatte er zwar seinerzeit empirisch erarbeitet, in seinem Spätwerk weitete er ihn jedoch spekulativ zu einem Ordnungsprinzip aus, welches nicht nur Bildvorstellungen und energetische Abläufe der Psyche beherrscht, sondern auch die materielle Welt. Auch den Begriff des kollektiven (arteigenen) Unbewussten, den er ebenfalls nach den Regeln wissenschaftlicher Empirie erarbeitet hatte, weitete er spekulativ aus. Mehr und mehr gebrauchte er ihn zur Benennung einer nicht erfassbaren Einheitswirklichkeit jenseits der Unterscheidung von Psyche und Materie. Antizipiert sah er diesen im mittelalterlichen Begriff ‚Anima mundi’.
Für die neue Auffassung des Geistigen war damals die Zeit noch nicht reif. So tasteten sich denn die beiden, wie gesagt, gleichsam ins Dunkel voran: Pauli von der Materie her, Jung von der Psyche her. Dabei trieben sie zwar den Stollen ein gutes Stück voran. Bevor jedoch der eigentliche Durchbruch gelang, musste noch eine gewaltige Menge von Fakten ans Licht gebracht und eine unterdessen herangereifte Auffassung über die Eigenart bewussten Erkennens sowie über das Naturgeschehen ins Bewusstsein gehoben werden.