C.G. Jung Gesellschaft Berlin
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C.G. Jung und die Naturwissenschaft

Autor: Willy Obrist · 08.03.2010

Die archaische Weltsicht

Bei diesem Vorgehen gelang es schliesslich, den stichhaltigen Nachweis zu erbringen, dass eine Evolution des Bewusstseins stattgefunden hat. Indessen musste vorerst noch ein Hindernis überwunden werden. Dieses bestand darin, dass der Mensch vor Beginn der europäischen Neuzeit sich selbst, die Welt sowie seine Befindlichkeit in der Welt völlig anders vestanden hatte als wir dies heute tun. Dies hatte zur Folge, dass seine Gedankengänge in grossem Ausmass nicht mehr nachvollzogen werden konnten. Dies wiederum  machte es bei sozusagen allen früheren Kulturen  unmöglich, den Grad des Unterscheidungsvermögens, der in ihnen zum Ausdruck kam, festzustellen.

Dazu kam noch, dass diese untereinander sehr verschieden waren.  Durch transkulturellen Vergleich konnte jedoch festgestellt werden, dass ihnen allen  ein gemeinsames Muster der Weltsicht zugrunde lag. Ich bezeichnete es, um es vom heutigen, neuen zu  unterscheiden als archaisches (grch. archaios – alt, veraltet). Es wurde zwar in der geographischen Breite sowie im Verlauf  der Zeit breit variiert, doch ist es in seiner Grundstruktur von der Steinzeit bis zum Ende unseres Mittelalters unverändert geblieben. Um diese Grundstruktur der archaischen Weltsicht mit wenigen Worten zu skizzieren: Sie war dualistisch, d.h. es wurde zwischen zwei Bereichen der Wirklichkeit unterschieden: einem sichtbaren (natürlichen, diesseitigen, bzw. physischen) und einem unsichtbaren (übernatürlichen, jenseitigem bzw. metaphysischen). Den jenseitigen Bereich stellte man sich von unsichtbaren Wesen bewohnt vor: von Wesen, denen man die Fähigkeiten zuschrieb, akausal  –  durch blosses Denken und Wollen  –  auf das ‚Diesseits’ einzuwirken (Wunder) , sich dem Menschen mitzuteilen (zu offenbaren) sowie auch gelegentlich ins ‚Diesseits’ herüber zu treten und dabei  –  in späteren Phasen der Bewusstseins-Evolution  –  einen ‚fleischlichen’ Körper anzunehmen (sich zu inkarnieren).

Nun war eine der grundlegenden Entdeckungen der  Tiefenpsychologie die des  –  völlig unbewusst  verlaufenden  –  Vorgangs der Projektion: der Tatsache, dass Gestaltungen des Unbewussten   –  insbesondere das in einer Vision Geschaute  –  in der Projektion wahrgenommen (perzipiert) und deshalb konkretistisch aufgefasst (apperzipiert) werden. Diese Entdeckung hatte umstürzende Konsequenzen für die archaische Weltsicht. Da vor dem empirischen Nachweis des Unbewussten der Projektionsvorgang nicht durchschaut werden konnte, war es bei phylogenetisch weniger entwickeltem Bewusstsein dem Menschen gar nicht möglich Visionen (früher auch grosse Träume, sogar Wachfantasien) anders als konkretistisch zu verstehen. Dies liess uns zum einen verstehen, wie einst die archaische Weltsicht zustandegekommen war. Es liess aber gleichzeitig erkennen, dass in Europa im Verlauf der Neuzeit ein fundamentaler Wandel der Weltsicht stattgefunden hat.

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