Plötzlich war viel Militär zu sehen, und viele junge Leute mit Waffen, die im Zweifelsfalle für Ordnung sorgen sollten. Wir verließen diesen Ort so schnell es ging und stiegen auf der anderen Seite ins jüdische Viertel hinauf. Ich erinnere mich an eine junge Soldatin an der Kontrollstelle, ein hübsches jüdisches Mädchen mit einer schicken Sonnenbrille, die ihre Maschinenpistole wie lässig vor dem Leib trug. Ich dachte, welch eine andere Psychologie entstehen wird, wenn in einem Land alle jungen Leute über 18 Jahre für drei Jahre zur Armee müssen, und das seit mehr als einer Generation. Alle jüdischen Menschen, die wir kennen lernten, waren in der Armee gewesen, und viele berichteten, dass ihre Kinder gerade jetzt eingezogen waren wegen des Kriegs gegen die Hamas in Gaza.
Wir gingen weg vom Ort der Konfrontation und kamen in das Viertel der armenischen Christen. Dort waren ruhige Gassen, verträumte Gärten, jene kleine Kirche mit der Ikone des Hl. Lukas, und eine vorsonntägliche Stille. Die christlichen Gemeinden hatten mit dem Kampf der Moslems und Juden offenbar nichts zu tun. Der Gaza – Krieg schien für sie nicht stattzufinden.
Ölberg und Garten Getsemani
Jerusalem war angespannt. Man fürchtete einen Ausbruch irrationaler Gewalt, in der sich die Spannung entladen würde, vermutlich zunächst in den islamischen Vierteln.
Ein unerwarteter Ruhepunkt für uns wurde am nächsten Tag der Ölberg. A., ein analytischer Kollege aus Jerusalem, fuhr uns in seinem Auto dorthin. Es war Sabbat, kein Bus fuhr, die Straßen waren fast leer. Über den sonntäglich wirkenden Straßen stand eine heiße Sonne im blauen Himmel, erstaunlich warm für Januar. Wir kamen an Mea Sharim vorbei, das mit Straßensperren verschlossen war. Hier wollten die ultraorthodoxen Juden heute unter sich sein. Wir fuhren über Mount Skopus, einen hohen Berg mit einem Campus der Universität und einer unglaublichen Aussicht bis weit ins Jordantal und zum Toten Meer. Dann ging es durch arabische Viertel zum Gipfel des Ölbergs. Unser Kollege wurde unsicher, als er durch die palästinensischen Straßen fuhr. Er wagte kaum zu bremsen, als hätte er Angst in der eigenen Stadt. Diese Viertel gehören zu israelischem Gebiet, ihre Bewohner haben einen israelischen Pass, sie können auch zur Wahl gehen und haben eigene Abgeordnete. Doch in solchen Zeiten konnte ein Funken eine Explosion auslösen.
Vom Ölberg hatten wir dann den schönen Blick auf den Tempelberg mit Felsendom und Al Aksha Moschee, auf das Kidrontal und die Altstadt, und auf die großen Friedhöfe. Doch auch hier herrschte eine feindselige Stimmung. Wir gingen den sonnigen Berg hinab in die Gärten. Dort war dann alles anders. Es gab Bäume, Sträucher, eine frische Luft. „Dominus flevit“ – der Herr weinte – heißt einer der Gärten mit berückender Aussicht, einer Kapelle und schattigen Plätzchen an der Stelle, wo Jesus auf die Knie gefallen war und weinte. Es war in der Nacht vor seinem gewaltsamen Ende.
Auch mir kamen Tränen. Vielleicht bleibt es nicht aus, wenn man als sensibler Mensch, der Bachs Matthäuspassion liebt, hier her kommt. Jesus hatte, als er das letzte Mal nach Jerusalem kam, auch über die Stadt geweint, deren Zukunft er gespürt haben mag.
Es war jetzt, als sei seine Botschaft verhallt. Auch christliche Zeiten in der Geschichte der Stadt waren ja traumatisch, insbesondere die Kreuzzüge. Palästina war, wie der ganze Mittelmeerraum, in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung christlich geworden. Juden lebten in Jerusalem nicht mehr, seit der römische Kaiser Hadrian ca. 150 n.Chr. sie „endgültig“ vertrieben hatte. In Jerusalem entstanden zahlreiche Klöster, und mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion auch jene berühmten großen Kirchen, die es in ihrer Pracht mit denen von Konstantinopel bzw. Byzanz aufnehmen konnten. Die christliche Glanzzeit endete mit der Eroberung durch die Moslems im 6. Jhd.. Zunächst erlaubten diese wieder die Ansiedlung von Juden in der Stadt, andererseits brachten sie mehrmals alle jüdischen und die verblieben christlichen Bewohner der Stadt um und zerstörten die prächtigen Kirchen aus der Zeit Konstantins. Als die ersten Kreuzfahrer später Jerusalem (zurück)eroberten, schlachteten sie ihrerseits alles ab, was sie vorfanden. Nach der Wiedereroberung durch die Moslems, insbesondere dann durch die aus Ägypten kommenden Mamelucken, gab es Jahrhunderte eines islamisch geprägten Stillstandes. Das Land und die Stadt verarmten, bis nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches die Zeit des britischen Mandats begann. Nach heftigen Unruhen, der auflebenden jüdischen Einwanderung und des terroristischen Guerillakriegs der jüdischen Irgun gab England 1949 das Mandat zurück, und der Staat Israel wurde gegründet. Sogleich begann der Krieg der arabischen Länder gegen Israel. Bis heute ist die Geschichte dieses Landes und dieser Stadt eine endlose Kette von Offenbarungen, Kriegen, Triumphen und Gräueln.